Rote Linsen in der Wild-Saison

Predigt zu Genesis 25,19-34
Sonntag, 20. Oktober 2024

Pfr. Roman Häfliger

Schon im Mutterleib streiten die beiden, später machen sie bemerkenswerte Tauschgeschäfte – 
Jakob und Esau ziehen uns mitten in ihre spannende Geschichte hinein: in ihre Familien­geschichte, in die frühe geografisch-politische Geschichte des Nahen Ostens, und in Mutmassungen über die Auswirkungen von kulinarischen und anderen Vorlieben.

Die Familiengeschichte

Sie läuft harzig an, die Nachkommenschaft von Abraham, dem «Nachkommen, so zahlreich wie die Sterne am Himmel» versprochen werden (Genesis 15,5). Selbst erst im hohen Alter Vater geworden, scheut er keinen Aufwand, um dem vierzigjährigen Muttersöhnchen Isaak eine Ehefrau zu finden (Genesis 24). Auch die nächste Generation braucht viel Geduld, bis sich Nachkommen ankündigen. In die Freude über Rebekkas Schwangerschaft mischt sich bald Sorge: Die Mutter spürt, wie sich die Zwillinge schon vorgeburtlich streiten.

Über die Kindheit von Esau und Jakob verliert die Erzählung kein Wort. Sie entwickeln unterschiedliche Interessen: Feld und Jagd der eine, Ruhe und Haus- bzw. Zelt-Arbeit der andere. Wären die Zwillinge Bube und Mädchen, die Eltern hätten sie vielleicht blau und rosa angezogen, so stereotyp werden die elterlichen Vorlieben beschrieben: Der haarige Esau, der seine Tage draussen verbringt, mit Ziegengeruch heimkommt und ab und zu einen Wildbraten mitbringt, ist des Vaters Liebling. Jakob, ein paar Minuten länger im Mutterleib verweilt, bleibt auch später gerne zuhause, ich stelle mir vor, dass er der Mutter hilft und bei ihr gut kochen lernt. Dabei bekommt er auch andere ihrer Fähigkeiten mit: Sie könnten mit Netzwerken, Drahtziehen oder Lobbyieren umschrieben werden.

Aus der Jugendzeit wird eine einzige Szene überliefert. Hungrig kommt Esau vom Feld, ein Topf verströmt den Duft von feinem Essen. Meine Kinder schauen auch häufig in den Topf, wenn sie hungrig von der Schule kommen. Ob es den Koch genervt hat, dass sein Bruder nicht warten kann, bis alle beim Essen sitzen? Ich bin nicht sicher, es wirkt eher so, als setze er einen wohlüberlegten Plan um. Essensausgabe gegen Erstgeburtsrecht. Esau stelle ich mir etwas verdutzt vor. Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Das Erstgeburtsrecht dieser Zeit ist dem emmentalischen Letztgeburtsrecht auf Landwirtschaftsbetrieben zu vergleichen. Damit sich das Erbe nicht von Generation zu Generation verkleinert, werden Hab und Gut an nur ein Kind, bzw. einen Sohn, vererbt, mit allen Rechten und Pflichten, die dazugehören. Eine strukturelle Ungerechtigkeit, die der Nachgeborene hier umdreht. Esau ist verdutzt und hungrig genug, den geforderten Schwur zu leisten, und labt sich am roten Linsengericht. Vielleicht hat er, der so viel draussen unterwegs ist, tatsächlich kein Interesse am erstgeburtlichen Vorrecht? Darüber erfahren wir nichts.

Geografie und Politik

Sowieso will diese Geschichte mehr als nur eine eigentümliche Familiendynamik beschreiben. Sie wird seit Jahrtausenden überliefert, weil sie die Beziehungen zwischen Israel/Juda – dem Volk des Stammvaters Jakob – und Edom – dem Volk des Stammvaters Esau – erklären will. Edom liegt südöstlich des Toten Meers und nimmt verkehrsgeographisch eine Schlüsselrolle ein; die sogenannte Weihrauchstrasse nach Südarabien führt durch ihr Gebiet, Jahrhunderte später wird in dieser Gegend die berühmte Felsenstadt Petra errichtet. Gleichzeitig versucht Edom immer wieder, den Süden Judas und damit einen Zugang zum Mittelmeer unter seine Kontrolle zu bringen. Die Beschreibung von Esau als Stammvater der Edomiter hat mit der roten Erde und der buschigen Vegetation zu tun. Als diese Geschichten entstehen, ist sich Israel bewusst, dass Edom ein kulturgeschichtlich altes Land ist. Deshalb gesteht es ihm in den Erzählungen zu, Erstgeborener zu sein – gleichzeitig beansprucht es aber, kulturell entwickelter zu sein als das rückständige und naturverbundene Nachbarland.

Die konfliktbeladene Geschichte zwischen den beiden Zwillingen endet nicht mit dem Linsengericht. Jahre später wird Jakob den älteren Bruder auch noch um den Segen seines sterbenden Vaters bringen und daraufhin fliehen müssen (Genesis 27). Die darauffolgende Erzählung ihrer Aussöhnung versucht zu erklären, warum die beiden Völker einigermassen friedlich neben-, aber nicht miteinander bestehen (Genesis 33). Einen Ausblick in die Gegenwart wage ich an dieser Stelle nicht zu machen.

Linsen & Wild

Hingegen möchte ich noch einmal auf die Erzählebene zurückkehren. Es ist eine tragische Geschichte, die hier erzählt wird. Und doch gefällt mir etwas besonders: Die Protagonist*innen, obwohl zentrale «Gründer»-Gestalten – oder soll ich sagen: Nationalhelden? – werden sehr menschlich beschrieben werden, mit ihren Neigungen, Vorlieben, Listig- und Hinterhältigkeiten. Es «menschelt» in der Menschheitsgeschichte, auch bei Menschen, die sich Gott sehr nahe fühlen.

Die Eltern scheinen nicht den Anspruch zu haben, ihre beiden Kinder gleich zu lieben. Vater Isaak mag Wild, gerade in dieser Jahreszeit kann ich ihm nachfühlen, und wenn Esau ihm über Jahre hinweg Strausse, Gazellen oder Hasen heimbringt, geht seine kulinarische Vorliebe auch auf eine familiäre über. Ebenso soll es Rebekka nachgesehen werden, wenn sie denjenigen bevorzugt, der sie in der täglichen Arbeit begleitet oder sogar unterstützt. Diese Trennung überträgt sich auf die beiden Brüder, die nicht das Beste für beide wollen, sondern jeder jeweils das Beste für sich. Der Bruder als Konkurrent, nicht als Partner.

Wenn der Jäger Esau sein Erstgeburtsrecht für ein paar Linsen abgibt, blickt die Geschichte vielleicht sogar etwas ironisch zurück: Zu Beginn des Buchs Genesis wird von einem anderen Brüderpaar und ihren Koch- bzw. Opferkünsten berichtet: Abels Tieropfer wurde von Gott wohlwollend angenommen, während Kains pflanzliche Opfergabe verschmäht wurde; den tragischen Fortgang dieser Geschichte kennen Sie (Genesis 4).

Mit dem Linsengericht holt sich Jakob etwas, was ihm wegen struktureller Ungerechtigkeit eigentlich verwehrt bliebe. Hat das Erstgeburtsrecht den freiheitsliebenden Bruder tatsächlich nicht interessiert? Oder spielt sich da eine Geschichte ab, die sich in der Weltgeschichte seither viel zu oft wiederholt? «Ich sterbe fast vor Hunger! Wozu brauche ich da mein Erstgeburtsrecht?» Ein paar Linsen für das ganze Erbe – immer wieder werden Unvorbereitete überrumpelt und Hungrige übervorteilt, werden Landstriche für Glasperlen abgeknöpft, werden mit Essensbons Wählerstimmen gekauft, werden Arbeitsuchende mit leeren Versprechen in Fallen gelockt.

«So wenig war ihm sein Erstgeburtsrecht wert.», bilanziert der Erzähler. Ist das die Sieger­perspektive auf die Geschichte? Esaus Sicht der Dinge ist nicht überliefert. Oder wird es als ausgleichende Gerechtigkeit gesehen, dass Jakob seinerseits später von einem anderen Verwandten übervorteilt werden wird (Genesis 29)?

Ab diesem Zeitpunkt gilt Jakob für die Geschichte als der Erstgeborene, die folgenden Kapitel erzählen vor allem seine Geschichte. Seine Kinder werden die zwölf Stämme Israel begründen, sein Name steht ganz zu Beginn des Matthäus-Evangeliums im Stammbaum Jesu Christi.

Was nehmen Sie aus dieser Geschichte mit?

Auch wenn es in dieser Geschichte um ein Linsengericht geht, ist die Bibel nicht ein Rezeptbuch mit immer eindeutigen Angaben. Deshalb gebe ich Ihnen drei mögliche Schluss-Sätze zur Auswahl:

  1. «…das kommt in den besten Familien vor!»
  2. «Brich dem Hungrigen dein Brot» soll nicht an Bedingungen geknüpft werden.
  3. Gott ist mit uns, auch wenn wir uns nicht immer seinen Geboten entsprechend verhalten.

 

PS. Wie die Geschichte weitergeht, erleben wir in den Geschichtenstunden der kik Kinderkirche ab 27. Oktober.

PPS. Vielleicht interessieren Sie die Rezepte ja doch. Hier finden Sie das Linsengericht, wie es Esau vielleicht vorgesetzt bekommen hat. Und hier ein Linsen-Shakshuka, dessen Genuss schon fast den Verzicht auf das Erstgeburtsrecht rechtfertigt. Guten Appetit.