«Löst die Fesseln!»

Predigt zu Jesaja 58,6-10
Sonntag, 22. September 2024

Pfr. Roman Häfliger


«Let us all in Christ be free! / Lass uns alle in Christus frei sein!»

Gestern haben wir im Kirchlichen Begegnungszentrum Neumatt gehört, wie Befreiung klingen kann. Der «Jubalo Choir» aus Kentucky hat auf seiner einwöchigen Konzert-Tour durch die Schweiz auch uns besucht. Der Chor singt Lieder von Sklaverei und Emanzipierung. Einige dieser Lieder sind weltberühmt, einige in unser Kirchengesangbuch aufgenommen worden, andere hat der Chor wieder gefunden, nachdem sie jahrzehntelang verschollen gewesen waren. Er singt die Gospels nicht nur, sondern erklärt sie auch: Diese Lieder wollen nicht nur über das Leid der Sklaven klagen oder von einem leidvollen Leben ablenken. Einige dieser Lieder rufen offen zur Befreiung und Revolution auf und haben das ihre dazu beigetragen, dass die Sklaverei in den USA abgeschafft worden ist.

Die Geschichte dieser Lieder, der Gospel, beginnt bereits mit der Entdeckung der mittel­amerikanischen Inseln durch Christoph Kolumbus 1492. Ein paar Jahre später werden die ersten Sklaven zur Entlastung der Ureinwohner nach Südamerika verschleppt, ab 1619 auch nach Nordamerika. Aus der afrikanischen Gesangstradition entsteht dort der spiritual, der den Sklaven die Arbeit auf den Plantagen etwas erleichtert. Die biblische Betonung der Freiheit und der Gleichberechtigung aller Rassen machen den Sklaven Hoffnung auf ein besseres Leben. Diese Hoffnung braucht einen sehr langen Atem. Erst 1773 wird den Afroamerikanern die Gründung eigener Kirchen erlaubt. Fortan sind diese oft der einzige Bereich in ihrem Leben, in dem sie sich emotional wie politisch frei ausdrücken können. Die Liedtexte beschreiben die Situation der Sklaven, sind aber auch Ausdruck des Glaubens, der Hoffnung und des Mutes. Es vergehen weitere knapp 100 Jahre bis zur Abschaffung der Sklaverei 1865, womit noch lange nicht alle Fesseln gelöst sind. Somit stehen die Gospels in einer langen Tradition von aufrüttelnden Liedern.

Schon in der Bibel werden solche Lieder überliefert, eines der berühmtesten singt Mirjam nach der Rettung Israels durch das Schilfmeer: «Die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm ihre Pauke in die Hand. Auch alle anderen Frauen griffen zu ihren Pauken und zogen tanzend hinter ihr her. Mirjam sang ihnen vor: Singt für den Herrn: Hoch und erhaben ist er. Rosse und Wagen warf er ins Meer.» (Exodus 15,20f)

Auf ganz andere Art wird die – spirituelle – Freiheit von Paulus im Galaterbrief besungen: «Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen.» (Galater 3,28) Schön, wenn sich ein Sklave dank seines Glaubens trotz irdischer Gefangenheit frei fühlen kann, wenn er trotzdem seine Verbindung mit Christus Jesus fühlt. Tragischerweise ist dieser Text immer wieder auch von Sklavenhaltern gelesen und zu Unguns­ten der Gefangenen interpretiert worden. Bei der von Paulus angedachten Gleich­berechtigung im Spirituellen fehlte und fehlt viel zu oft die Ergänzung der weltlichen Gleichberechtigung.

Genau darum geht es dem heutigen Predigttext aus dem 58. Kapitel des Buchs Jesaja. Er beklagt den einseitigen Fokus aufs «Fasten», auf den freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken, dem etwas fehlt, wenn es nicht mit zwischenmenschlichen Aktionen ergänzt wird. Dieser Teil des Buchs Jesaja ist wahrscheinlich in den Jahren nach 520 v.Chr. entstanden: nach dem Exil, nach der von fremden Grossmächten erzwungenen Verschleppung, als die Zurückgekehrten in Jerusalem und Juda unter den religiös offenen persischen Herrschern eine gesellschaftliche Neukonstituierung wagten.

Nach einigen Versen, die beschreiben, wie Fasten nicht gemeint ist, heisst es da:
«Das wäre ein Fasten, wie ich es liebe:
Löst die Fesseln der zu Unrecht Gefangenen, bindet ihr drückendes Joch los!
Lasst die Misshandelten frei und macht jeder Unterdrückung ein Ende!
7Teil dein Brot mit dem Hungrigen, nimm die Armen und Obdachlosen ins Haus auf.
Wenn du einen nackt siehst, bekleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Nächsten!
8Dann bricht dein Licht hervor wie die Morgen­röte, und deine Heilung schreitet schnell voran. Deine Gerechtigkeit zieht vor dir her, und Gottes Herrlichkeit folgt dir nach. 9Dann antwortet Gott, wenn du rufst. Wenn du um Hilfe schreist, sagt Gott: Ich bin für dich da!
Schaff die Unterdrückung bei dir ab, zeig auf niemanden mit dem Finger und unterlass üble Nachrede. 10Nimm dich des Hungrigen an und mach den Notleidenden satt. Dann strahlt im Dunkeln ein Licht für dich auf. Die Finsternis um dich herum wird hell wie der Mittag.»

Dieser Text ist – anders als viele Gospels – nicht eine Selbstaufforderung zur Revolution. Er richtet sich an diejenigen auf der anderen Seite: Löst die Fesseln! Beendet jede Unterdrückung! Versprochen wird Grosses: Dann strahlt im Dunkeln ein Licht für dich auf.

Somit kann dieser Text, Jahrhunderte nach seiner Entstehung, auch uns ansprechen. Die erste Aufforderung, Fesseln von zu Unrecht Gefangenen zu lösen, betrifft mich vielleicht nicht direkt. Doch gleich darauf werde auch ich konkret angesprochen. Teile dein Brot mit dem Hungrigen. In Burgdorf gibt es nun schon drei Madame Frigo-Kühlschränke, in denen Lebensmittel unkompliziert weitergegeben werden können. Nimm Arme und Obdachlose auf. Reicht hier der Verweis auf die professionelle, staatliche und kirchliche Sozialhilfe? Bekleide den Nackten. Ist es mit der Weitergabe von alten Kleidern in die entsprechenden Container getan? Entzieh dich nicht deinem Nächsten. Spätestens bei dieser Aufforderung kann ich die Umsetzung nicht mehr delegieren.

Befreiung wird möglich, wenn ich mich meinem Nächsten nicht mehr entziehe, sondern mich ihm zuwende. Indem ich mich meinem Gegenüber zuwende, nehme ich es als Mensch wahr. So befreie ich nicht nur mein Gegenüber, sondern auch mich selbst. Das Gegenüber ist dann nicht mehr einfach nur gefangen, arm, hilfsbedürftig oder hungrig, sondern ein Mensch wie ich. Vielleicht kostet es Sie Überwindung, einem Menschen in die Augen zu sehen, der Sie auf der Strasse um etwas Geld bittet. Vielleicht bekommen Sie mit, was in der Wohnung nebenan geschieht, und Sie mögen sich doch nicht einmischen. Vielleicht wissen Sie, dass eine Bekannte in Trauer ist, aber Sie wagen sie nicht anzurufen. Entzieh dich nicht deinem Nächsten! Dann schreitet deine Heilung schnell voran.

Die «Heilung» erinnert an den ursprünglichen Kontext dieser Zeilen: Der Text richtet sich da an eine Gesellschaft, die erst kürzlich aus der Unterdrückung entlassen worden ist. Wie schnell hat sie die Unterdrückung vergessen, wenn sie nun ihrerseits andere zu unterdrücken scheint!

Auf «Heilung» hoffen aber auch wir. Immer noch, immer wieder, manchmal zuversichtlich, manchmal verängstigt. Veränderungen im familiären Umfeld oder Nachrichten aus der weiten Welt lassen mich nach Gottes Hilfe suchen. Da ermutigt diese Zusage: «Wenn du um Hilfe schreist, sagt Gott: Ich bin für dich da!»

Die Voraussetzung dafür, laut diesem Text: Nicht ein in-mich-gekehrtes Fasten, sondern die Zuwendung zu meinem Nächsten. Religion betrifft nicht nur die individuelle Beziehung zwischen mir und Gott, sondern ebenso die Beziehung zwischen mir und Gottes Ebenbildern auf der Erde. Insbesondere den Notleidenden. Ich wünsche uns guten Mut und viel Freude dabei. Auf dass es um uns herum hell werde wie der Mittag.