Zitternde Wächter und blühende Mandelbäume

Predigt zu Kohelet 12,3-7 (Predigtreihe «Bibel ist mehr» VI)
Sonntag, 4. August 2024

Pfr. Roman Häfliger
 

Im Schoss sitzen

«Bis zu des Alters Tagen will ich dich heben, tragen und dein Erretter sein.» Jakob Freddersen nimmt in seinem Lied (RG 745) ein Versprechen aus dem Jesajabuch auf (46,3). Was für eine schöne Zusage!

Von Geburt an habe ich euch getragen, sagt Gott, und dieses Bild können wir uns bildlich noch vorstellen. Das Neugeborene geborgen in den schützenden Armen der Mutter, des Vaters – oder eben Gottes. Auch später im Leben ist es schön, gehoben und getragen zu werden. Kinder setzen sich noch viele Jahre auf den Schoss ihrer Eltern. Jugendliche zeigen sich ihre Zuneigung, indem sie sich gegenseitig auf den Schoss sitzen. Und eigentlich, Hand aufs Herz, würden wir uns auch als Erwachsene doch gerne mal wieder in den Schoss nehmen lassen. «Auch wenn unsere äusseren Kräfte aufgezehrt werden, bekommen wir innerlich Tag für Tag neue Kraft.», schreibt Paulus (2.Kor 4,16). Oder mit Jesaja: «Bis zu des Alters Tagen will ich dich heben, tragen und dein Erretter sein.»

Gott darf ich mich bis in des Alters Tagen in den Schoss setzen. Eigentlich selbstverständlich, denn die Zeit ist eine irdische, keine himmlische Einrichtung. So haben weder Gottes Fürsorge noch die göttliche Ebenbildlichkeit des Menschen ein Verfalldatum. Und doch ist es nicht verkehrt, diese Selbstverständlichkeit wieder einmal hervorzustreichen.

Im Umgang mit dem Älterwerden sind wir Menschen nicht gleich grosszügig. Brauchen wir etwas mehr Schlaf oder nimmt die Erinnerungs­fähigkeit ab, sagen wir schon ab vierzig, «das chunnt halt mit em Alter». Die Trauer um die vergangene Jugend ist weiter verbreitet als die Vorfreude auf das Alter.

Über die schnell vergehenden Freuden der Jugend singt auch Kohelet. Gleich anschliessend stimmt er jedoch ein in ein Lied über das Alter:

Wenn der Mensch alt geworden ist, zittern die Wächter des Hauses und krümmen sich die starken Männer. Die Müllerinnen stellen die Arbeit ein, weil nur noch wenige übrig geblieben sind. Die Frauen, die durch die Fenster schauen, erkennen nur noch dunkle Schatten. Die beiden Türen, die zur Strasse führen, werden auch schon geschlossen. Und das Geräusch der Mühle wird leiser, bis es in Vogelgezwitscher übergeht und der Gesang bald ganz verstummt. Wenn der Weg ansteigt, fürchtet man sich. Jedes Hindernis unterwegs bereitet Schrecken.

Wenn schliesslich der Mandelbaum blüht, die Heuschrecke sich hinschleppt und die Frucht der Kaper aufplatzt: Dann geht der Mensch in sein ewiges Haus, und auf der Strasse stimmt man die Totenklage an.

Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat, bevor die silberne Schnur zerreisst und die goldene Schale zerbricht – bevor der Krug am Brunnen zerschellt und das Schöpfrad in den Schacht stürzt. Dann kehrt der Staub zur Erde zurück, aus der der Mensch gemacht ist. Und der Lebensatem kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat.

 

Werbe-Spot

Bevor ich auf die Sprachbilder eingehe, erlaube ich mir einen Werbespot. «Bibel ist mehr», lautet unsere Sommer-Predigtreihe. Bibel ist mehr, weil ich immer wieder Geschichten entdecke, die ich nicht oder nicht so gekannt habe. Je nachdem, in welcher Verfassung, in welchem Alter oder Lebensabschnitt ich mich befinde, lese ich die Geschichten aus einer anderen Perspektive oder fühle mich von unterschiedlichen Stellen angesprochen. «Bibel ist mehr» – ganz konkret: Es gibt nicht nur eine Übersetzung der heiligen Schrift. Deshalb lohnt es sich, hin und wieder in einer Buchhandlung neue Ausgaben zu lesen. So ist die Zürcher Bibel 2007, die während meines Studiums erschienen ist, meinem Sprachempfin­den viel näher als die Ausgabe von 1991, die ich im Religionsunterricht bekommen hatte. Auf Zwingli selbst geht die Aufforderung zurück, die Bibel solle in jeder Generation wieder neu nach aktuellem Forschungsstand und in gebräuchliche Sprache übersetzt werden.

Dieser Aufforderung kommt neben dem Theo­lo­gi­schen Verlag Zürich auch die Deutsche Bibel­gesellschaft nach. Diese hat in den vergangenen Jahren eine neue Übersetzung geschaffen: die BasisBibel. Sie ist nach ihrem Selbstverständnis «die Bibelübersetzung für das 21. Jahr­hundert: klare Sprache, kurze Sätze, sinnvolle Gliederung, umfangreiche Erklärungen in den Randspalten.»

Und nun die Begründung für diesen Werbe-Spot: In dieser neuen Übersetzung und dank der erwähnten Randspalten habe ich das schöne Alterslied aus dem Buch Kohelet endlich verstanden!
 

Sprachbilder

«Wenn der Mensch alt geworden ist, zittern die Wächter des Hauses und krümmen sich die starken Männer.» Die Wächter des Hauses stehen hier für die Arme, die starken Männer für die Beine.

Mit den Müllerinnen, die immer weniger werden und deswegen die Arbeit einstellen, sind die Zähne gemeint. Auf einem Zoobesuch habe ich gelernt, dass Elefanten 5x die Zähne nachwachsen. Das ist auch nötig, denn die «Müllerinnen» der Elefanten mahlen täglich bis zu 200kg Blätter, Rinde und Gras. Die Lebenszeit von Elefanten wird auch dadurch bestimmt, dass ihnen die Zähne nicht noch ein sechstes Mal nachwachsen.

Die Frauen, die durch die Fenster schauen, sind die Augen. Diese erkennen nur noch dunkle Schatten – bildhaft für Makuladegeneration, Grauer oder Grüner Star. Und die beiden Türen, die zur Strasse führen, also die Ohren, werden geschlossen, wie Kohelet vor der Erfindung der Hörgeräte lapidarisch festhält.

Müllerinnen arbeiten in der Mühle, also ist mit dem Geräusch der Mühle die Stimme gemeint: Es «wird leiser, bis es in Vogelgezwitscher übergeht und der Gesang bald ganz verstummt.»

Das nächste Bild muss ich nicht näher erläutern: «Wenn der Weg ansteigt, fürchtet man sich.
Jedes Hindernis unterwegs bereitet Schrecken.» Wie ich in vielen Gesprächen höre, ist die Lage unserer schönen Stadtkirche das beste Beispiel dafür – da könnte ich nun zu einem zweiten Werbespot ansetzen, nämlich für unser Kirchen-Taxi: Das dürfen alle benutzen, die gerne einen kirchlichen Anlass besuchen, denen aber die Hindernisse unterwegs Schrecken bereiten.

Bleibt das Bild vom blühenden Mandelbaum: Er blüht jeweils am Ende des Winters schneeweiss und steht hier für weisses Haar. 

Mir gefallen diese Bilder, weil sie auf selbst­ironische Art beschreiben, was mit uns Menschen geschieht, wenn wir ein hohes Alter erreichen. Das Lied besingt zwar nicht gerade eine Vorfreude auf das Alter. Aber es beschreibt liebevoll, dass es ganz normal ist, wenn sich ehemals starke Beine krümmen, wenn die Arme nicht mehr das gleiche Gewicht stemmen mögen, wenn der Appetit zurückgeht. Es ist der Lauf der Zeit, dass Seh- und Hörvermögen abnehmen und dass die schöne Stimme dem heiseren Vogelgezwitscher weicht, bevor sie schliesslich ganz verstummt.

Dann, wenn der Mandelbaum blüht und der Mensch in sein ewiges Haus eingeht – im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen, wird Jesus später sagen (Joh 14,2) – zieht die Trauer­gemeinde klagend durch die Gassen. Und dann, auch da wieder stimmige Bilder: Dann kehrt der Staub zur Erde zurück, aus der der Mensch gemacht ist. Und der Lebensatem kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat.
 

…und die Moral von der Geschicht'

Deshalb, so Kohelets Ratschlag: «Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat, bevor die silberne Schnur zerreisst und die goldene Schale zerbricht – bevor der Krug am Brunnen zerschellt und das Schöpfrad in den Schacht stürzt.»

Die wörtlich gleiche Aufforderung steht schon zu Beginn des Kapitels, im Loblied über die Jugendfreuden (12,1): «Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat.» Sie rahmt also die Lebenszeit, in der der Mensch für sein Handeln verantwortlich ist, vom Erwachsenwerden bis zum Sterben. Das ist die menschliche Antwort auf Gottes Zusage, uns zu heben und zu tragen: Das Bewusstsein, von Gott geschaffen zu sein, die Dankbarkeit für das Leben mit seinen schönen und herausfordernden Zeiten. Jedes Vorhaben hat seine Zeit, auch diese Worte stammen aus diesem Büchlein (Kapitel 3), eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, eine Zeit für die Geburt und eine Zeit für das Sterben.

Und in all diesen Zeiten vertraue ich auf Gottes Zusage: «Ich bin es, der euch trägt und rettet!» (Jesaja 46,4)
 

Gebet

Gott, der du uns geschaffen hast –
wir denken an dich und an die Menschen, die deine Nähe besonders benötigen: an die Kranken, an die Trauernden, an die Einsamen, an die Hungernden, an diejenige, die der Sonne und der Hitze ausgesetzt sind, an die Verlassenen und an die Verletzten. Lass sie spüren, dass du sie trägst und rettest.
Und zeig uns Wege, wie wir ihnen helfen können.

Gott, der du uns geschaffen hast – 
wir denken an dich und an die Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen: an die Gebärenden und Stillenden, an diejenige, die ihre ersten Gehversuche machen und die sich aufs nächste Schuljahr vorbereiten, an die Jugendlichen, an die Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden, an die Mütter und Väter, an die Pensionierten und an diejenigen mit blühendem Mandelbaum.
Lass sie spüren, dass du treu bleibst.

Gott, der du uns geschaffen hast – 
wir denken an dich und an die Mitwelt, die du ebenfalls geschaffen hast: an die Tiere und Pflanzen, die unter der Hitze leiden, an die Gegenden, die von Brand und Dürre bedroht sind, aber auch an die Regionen, die heute Kälte und Dauerregen ausgesetzt sind.
Lass uns auf unsere Mitwelt achtgeben.