Schreiender Hirsch

Pfarrer Roman Häfliger, SchöpfungsZeit 2021

«Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir»: Die Psalmvertonung von Felix Mendelssohn singt am 12. September 2021 der Kirchenchor.

Frisches Wasser ist kostbares Gut. In unseren Gegenden geht das oft vergessen. In vielen biblischen Texten dient Wasser als Symbol oder als Vergleich. So wird die Sehnsucht nach Gott in Psalm 42-43 mit dem Durst verglichen, den eine Hirschkuh im trockenen Bachtal erleidet.

Gedanken zum Psalm in drei Strophen.

I

Haben Sie schon mal einen Hirsch schreien hören? Der Mensch, der dieses Klagelied aufgeschrieben hat, muss ziemlich verzweifelt sein, wenn seine Seele zu Gott schreit wie ein Hirsch nach frischem Wasser. Sein grösster Wunsch: Zum Tempel kommen, vor Gottes Angesicht. Aus seiner Klage schliesse ich, dass es ein Pilger ist, unterwegs verunfallt. So gern möchte er mit anderen gemeinsam in festlicher Schar zu Gottes Haus gelangen, mit Jubel- und Dankgesängen. Stattdessen harrt er aus und tröstet sich mit dem Refrain:

Was bist du so bedrückt, meine Seele?
Warum bist du so aufgewühlt?
Halte doch Ausschau nach Gott!
Denn bald werde ich ihm wieder danken.
Wenn ich nur sein Angesicht schaue,
ist mir schon geholfen.

Ich sehe ihn vor mir, den verletzten Pilger, Tränen laufen ihm über die Backen, andere lachen ihn aus. Sogar von Gott fühlt er sich verlassen. Wie die Hirschkuh bestürzt am steinigen Bachbett steht, das doch sonst immer gesprudelt hat. Es kann doch nicht sein, dass Gott mich auf meinem Pilgerweg vergisst!

II

«Alle deine Wellen und Wogen – sie schlugen über mir zusammen!» Wie viele Menschen haben sich seither dieser Klage angeschlossen?

Wenn von einem Tag auf den anderen die Welt zusammenfällt, weggeschwemmt wird mit Wellen und Wogen der Urflut. Ein Unfall war es beim Pilger. Vielleicht ist er vom Weg abgekommen, hat sich ein Bein gebrochen und kann nichtt mehr aufstehen. Eine Diagnose ist es bei jemand anderem. Der ernste Blick des Arztes, Sie sind zu spät gekommen, Ableger überall, es bleibt nur palliative Behandlung. Oder es die Chefin, die streng blickt. Etwas von Reorganisation oder Sparmassnahmen erwähnt, und dass die Stelle abgebaut wird. In diesem Sommer wurde vielen Menschen wortwörtlich die Welt weggespült, in Deutschland oder Haiti. Andere hören über ein Megafon, dass die Welt zusammengefallen ist, weil eine extremistische Gruppierung die Kontrolle über die Stadt oder das ganze Land übernommen hat.

Warum hast du mich vergessen, Gott?

III

Es gibt verschiedene Theorien, wie Psalmen entstanden sein könnten. Eine Theorie vermutet, dass Psalmen an einem Heiligtum überreicht worden sind, vergleichbar mit einer Kerze, die wir entzünden, wenn wir eine Kirche besuchen und eine Bitte unterstreichen möchten.Einmal abgegeben, wird der Psalm weitergeschrieben. Von anderen Pilgern, von Priestern. So könnte erklärt werden, warum auch Klagepsalmen wie Psalm 42-43 gegen Schluss zuversichtlicher und heller werden.

«Verhilf mir zu meinem Recht» ist die Fortsetzung von «Warum hast du mich vergessen?». «Rette mich vor falschen und bösen Menschen» ist die Erkenntnis aus «meine Gegner verhöhnen mich». «Send dein Licht und deine Wahrheit» ist die Bitte auf die Frage «Warum muss ich so traurig durchs Leben gehen?»

Es tut gut, Leid zu klagen, wenn mir danach ist. Es tut gut, darauf einen Zuspruch zu bekommen. Damals klagten Menschen im Heiligtum und bekamen vom Priester einen Zuspruch, einen Segen.

Auch heute ist Seelsorge eine wichtige kirchliche Ausgabe. Melden Sie sich, wenn Sie mit jemandem reden möchten. Es tut gut, gemeinsam zu reden, auszutauschen, innezuhalten und zu beten. So kann es geschehen, dass ich nicht mehr das Rauschen der Urfluten oder tosende Wasserströme höre, die über mir zusammenbrechen. Sondern dass ich einen Becher frisches Wasser gereicht bekomme und tief durchschnaufen kann: «Du, Gott, bist meine Zuflucht! Sende dein Licht und deine Wahrheit! Sie sollen mich sicher führen.»