«Ich schaffe eine neue Erde!»

Möchten Sie auch manchmal einfach noch mal von vorne anfangen? Ein versalzenes Menu, ein Projekt, bei dem der Wurm drin ist, ein schräges Bauwerk, eine zerrüttete Beziehung…

Auf dem Computer ist es ja einfach. [STRG + D], anschliessend [STRG + N]. Mit diesen zweimal zwei Tasten wird eine Datei gelöscht und eine neue Datei erstellt. Tabula rasa.

Das wäre auch im realen Leben manchmal befreiend. Ein Bauwerk im Sandkasten oder aus Kappla-Hölzern lässt sich innert Sekunden in seine Grundbestandteile zerlegen, so dass aus ihnen wieder etwas Neues entstehen kann. «Rückbau» nennt sich das im Erwachsenenleben. Da dauert es etwas länger und beansprucht riesige Maschinen, wie unlängst auf dem Aebi-Areal zu beobachten war. Und ja, manchmal wünschte ich es mir sogar in noch grösseren Dimensionen. Stellen Sie sich vor, wir hätten eine Sicherheitskopie unserer Welt vom 15. November 2019! Heute vor einem Jahr war die Menschheit gemäss jetzigen Erkenntnissen noch gänzlich frei von Coronaviren. Das ganze vergangene Jahr könnten wir noch einmal neu aufbauen!
Oder müsste man, wenn schon eine Reset-Taste gedrückt wird, gleich auf eine frühere Sicherheitskopie zurückgreifen…?

Aber lassen wir diese Überlegungen. Angestossen zu diesem Gedankenspiel hat mich eine Prophezeiung aus Jesaja 65,17-25.

«Denn seht, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde!» Noch einmal von vorne anfangen. Dieser Satz gehört zu den eigentümlichen und weitest­reichenden Aussagen in der alttestamentlichen Prophetie: Dass die bestehende Welt durch eine andere, neuere, bessere abgelöst werden soll, ist in dieser Zeit noch kein verbreiteter Gedanke. Der Bestand des Kosmos wird ansonsten im Alten Testament nicht angezweifelt. Der Ausruf lässt sich als Antwort lesen auf eine vorgängig vorgebrachte Klage von Gläubigen. Diese fühlen sich von Gott allein gelassen und seufzen: «Hättest du doch schon den Himmel zerrissen!» (63,17)

«Denkt nicht mehr an früher, jubelt endlos über das, was ich schaffe!» Da gibt es nicht einmal mehr eine Sicherheitskopie der früheren Ausgabe der Welt! Das tönt nach einer tabula rasa, die sogar die Erinnerungen an die Sintflutgeschichte übertrifft. Aber ist es wirklich so gemeint?

 

Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich den Text im Buch Jesaja verorten. Das Buch trägt den Namen eines Propheten, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhundert vor Christus in Juda gewirkt hat. Er hat Gerichtsworte gepredigt, die sich zum Teil kurz darauf erfüllt haben; sie sind im ersten Buchteil überliefert: 720 v.Chr. wurde Samaria von den Assyrern eingenommen und die lokale Elite verschleppt. Nach den Assyrern kamen die Babylonier, sie eroberten 130 Jahre später Jerusalem und verschleppten ihrerseits einen Teil der ansässigen Bevölkerung.

Nach weiteren zwei Generationen (539 v.Chr.) wird Babylon vom Perserkönig Kyros ein­genommen. Dieser erlässt ein Edikt, das den Nachkommen der Verschleppten endlich die Rückkehr in die Heimat ihrer Vorfahren erlaubt. In Israel beginnt eine Zeit, die wir heute «nachexilisch» nennen, prägend für viele hoffnungsvoll gestimmte Zukunftsvisionen. Während dieser 200 Jahre, seit sich die schlimmen Prophezeiungen Jesajas erfüllt haben, sind die Warnungen und Zusagen des Propheten weitergegeben worden. Auch, weil andere Menschen seine Gedanken aktualisiert und ergänzt haben. Aus der hoffnungsvollen nachexilischen Zeit stammt der zweite Teil des Buches. Hier heisst es z.B.: «Denkt nicht an das, was früher war. Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es, erkennt ihr es nicht?» (43,18-19). Die Heilszeit beginnt schon fast spürbar!

An diese Gedanken knüpft der dritte Buchteil an, geschrieben wohl ein paar Jahre später, als die Frage drängend wurde, wann denn das angekündigte Heil endlich komme. Auf diese Frage geht der Abschnitt ein.

 

 

Noch einmal neu beginnen? tabula rasa? «Ich schaffe eine neue Erde!» ist bei genauem Weiterlesen gar nicht so grundsätzlich oder kosmologisch zu verstehen. Es geht nicht um einen «Rückbau» des Planeten Erde, damit aus seinen Einzelteilen eine neue Welt entstehen kann. Vielmehr geht es darum, dass die Lebensordnungen der Welt umgeschaffen werden sollen. In der neuen Welt wird es kein Weinen mehr geben, keine Säuglingssterblichkeit, keine gewaltsame Übernahme von Wohn- oder Anbaugebieten. Gott verspricht den Seinen, sie zu erhören, noch bevor sie rufen. Und es wird Frieden herrschen – Frieden nicht nur als Abwesenheit von Krieg, sondern Frieden im hebräischen, ganzheitlichen Sinn: sogar Wolf und Lamm werden einträchtig nebeneinander weiden.

Ja, es tönt paradiesisch, was hier versprochen wird. Das Bild zeigt positiv-hoffnungsvoll auf, welche Herausforderungen zur Zeit seiner Verfassung anstehen. Die Wünsche dieser Vision entspringen Alltagssorgen: Wir möchten das Haus bewohnen, das wir bauen. Wir möchten dereinst den Wein der Reben trinken, die wir anpflanzen. Und wenn wir schon die Schmerzen von Schwangerschaft und Geburt ertragen, möchten wir unsere Kinder bei uns aufwachsen sehen.

Was meinen Sie – leben wir vielleicht tatsächlich schon im Paradies? Jedenfalls ist die Kindersterblichkeit stark zurückgegangen, und ich kenne tatsächlich Hundertjährige, die sich jung fühlen. Auch andere hier benannte Träume sind bei uns schon Realität geworden.

 

Im dritten Teil des Buchs Jesaja erhält die Heilsankündigung einen ethischen Akzent. Auch damals schon gab es Glückliche, die im Haus wohnen bleiben konnten, das sie sich gebaut hatten, und die ihre Kinder um sich aufwachsen sahen.

Genau diese spricht der Prophet an: Was könnt ihr dazu beitragen, dass auch eure Mitmenschen in solch paradiesischen Zuständen leben? Wie lange noch wollt ihr die Armen auf das kommende Heil vertrösten, während ihr selbst euren Nutzen aus ihrer Armut zieht? Was könnt ihr dafür tun, dass auch andere Kinder bei ihren Eltern aufwachsen können?

Heil und Gerechtigkeit gehören zusammen, gehörten schon 500 v.Chr. zusammen, und deshalb mischt sich Kirche immer mal wieder auch in politische Themen ein. «Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! … und deine Heilung wird schnell voranschreiten.» (Jes 58,7-8)
Das ist hier gemeint mit dem neuen Himmel und der neuen Erde.

Voraussetzung für die Partizipation am kommenden Heil ist nach diesem Propheten nicht, dass der Tempel neu aufgebaut wird, wie das andere Propheten dieser Zeit fordern, sondern, dass das Volk sein Verhalten ändert. Oder genauer: dass die politisch und wirtschaftlich Einflussreichen des Volkes ihr Verhalten ändern. Diese Forderung prangt als Überschrift über diesem Buchteil (Jesaja 56,1): «Wahrt das Recht, und übt Gerechtigkeit, denn bald kommt mein Heil, und meine Gerechtigkeit wird offenbar.»

Und was sagt mir dieser Text heute?

Der Entstehungsgeschichte des Jesajabuchs entnehme ich, dass Krisen vorbeigehen – aber nicht unbedingt im Zeithorizont, den ich überblicken kann. Das Buch bezeugt, dass Menschen an der Hoffnung auf das kommende Heil, auf Frieden und Wohlergehen, während mehrerer Generationen festgehalten haben, und dass sie sich in dieser Zeit auch gefragt haben, was sie selbst zu Heil und Wohlergehen beitragen können.

Das Engagement der Glücklichen, Wohlhabenden, in-ihren-Häusern-Wohnenden wird nicht das Paradies auf Erden bringen. Aber mit ihrem Engagement können sie dazu beitragen, dass neben ihnen viele andere auch dem Paradies etwas näher kommen. Und dass sie selbst dereinst am wirklichen Heil teilhaben: Weil das Heil bald kommt, soll man Gerechtigkeit üben, um an ihm zu partizipieren.

Diese Aufforderung gilt immer noch. Machen wir uns auf!