Segen erkämpfen

Predigt vom 16. April 2023 von Pfr. Roman Häfliger

 

Wir sind eine Woche alt. Und so sollen wir wie neugeborene Kinder nach der unverfälschten Milch verlangen, um durch sie heranzuwachsen zum Heil.

Diese Aufforderung steht im ersten Petrusbrief (2,2) und gibt dem Sonntag nach Ostern seinen Namen: Quasi modo geniti (infantes, Halleluja, rationabile, sine dolo lac concupiscite). Denn «durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten haben wir eine lebendige Hoffnung und Aussicht auf ein unzerstörbares, unbeflecktes und unverderb­li­ches Erbe» – so steht es im ersten Kapitel desselben Briefs (1,3f).

In den vergangenen Wochen durfte ich verschiedentlich Besuch empfangen von neugeborenen Kindern, zusammen mit ihren Eltern. Dabei habe ich mehr als einmal gehört: Wenn neugeborene Kinder nach Milch verlangen, machen sie das ziemlich resolut. Mit Beständigkeit und Nachdruck. Und, von aussen betrachtet, in kurzen zeitlichen Abständen. Fast scheint es, als möchten sie sich pausenlos an dieser Quelle aufhalten, umgeben von der wärmenden und schützenden Mutter. In dieser Intensität sollen wir nach «vernünftiger, unverfälschter Milch verlangen», um zum Heil heranzuwachsen! Wir sollen uns um die Teilhabe am Heil bemühen!

Jakobs Kampf am Jabbok

Vielleicht ist das die Verbindung zum Text aus dem Buch Genesis, der für den heutigen Sonntag als Predigttext vorgesehen ist. Da heisst es im 32. Kapitel (Übersetzung der BasisBibel):

In derselben Nacht stand Jakob auf. Er weckte seine beiden Frauen, die beiden Mägde und seine elf Söhne. Denn er wollte den Jabbok an einer flachen Stelle überqueren. Zuerst ließ er die Frauen und Kinder den Fluss überqueren. Dann brachte er sein Hab und Gut hinüber.

Er selbst blieb allein zurück. Plötzlich war da jemand, der bis zum Morgengrauen mit ihm kämpfte. Aber er sah, dass er Jakob nicht besiegen konnte. Da packte er Jakob am Hüftgelenk, sodass es beim Ringen ausgerenkt wurde. Dabei sagte er: »Lass mich los! Denn der Tag bricht an.«

Jakob entgegnete: »Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast.«

Der andere fragte Jakob: »Wie heißt du?«

Er antwortete: »Jakob.«

Da sagte der andere: »Von nun an sollst du nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel, ›Gotteskämpfer‹. Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist Sieger geblieben.«

Jakob bat: »Sag mir doch deinen Namen!«

Er erwiderte: »Wozu fragst du noch nach meinem Namen?« Und er segnete ihn dort.

Jakob nannte den Ort Penuel, das heißt: Angesicht Gottes. Denn er sagte: »Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin am Leben geblieben.«

Als Jakob Penuel verließ, ging gerade die Sonne auf. Er hinkte wegen seiner verrenkten Hüfte.


Es ist eine spezielle Nacht, die Jakob am Jabbok verbringt. Jahrzehnte zuvor hatte er sich den Segen seines Vaters erlistet, was ihm die Missgunst seines Bruders einbrachte. Er musste von zuhause weggehen, diente lange Jahre bei seinem Onkel, und war nun wieder in die Gegenrichtung unterwegs, um sich mit seinem Bruder zu versöhnen.

Sein Leben liest sich wie ein ständiges Ringen: mit seinem Bruder Esau, mit seinem Vater Isaak, mit seinem Onkel Laban. Später wird er Auseinandersetzungen um seine Tochter und zwischen seinen Söhnen auszuhalten haben. Ja, noch auf dem Sterbebett wird er seinem Sohn Josef widersprechen!

Das Ringen mit seinen Nächsten konzentriert sich in dieser kältesten Stunde der Nacht, bis zum Morgengrauen, auf einen Nahkampf mit «jemandem», der sich nur indirekt vorstellt. Nach diesem Kampf soll sich Jakob Israel, Gotteskämpfer, nennen. Dieser Jemand, Gott, bittet Jakob im Kampf, ihn loszulassen – und dieser, wie immer in entscheidenden Momenten, nutzt geistes­gegenwärtig die Situation zu seinen Gunsten: «Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast.»

Jakob, der sich den Segen seines Vaters erlistet hatte, erkämpft sich in dieser Nacht den Segen Gottes. Und – die Geschichte könnte ja auch anders weitergehen –: er empfängt von Gott diesen Segen! Darum gerungen hat er mit einem Nachdruck, der dem Verlangen neugeborener Kinder nach Milch in nichts nachsteht.

Segen erkämpfen

Wie gefällt Ihnen die Vorstellung, dass Gottes Segen erkämpft werden kann? Dies ist nicht eine rhetorische Frage: ich habe mich noch nicht zu einer eindeutigen Antwort entschieden.

Einerseits verstehe ich Gottes Segen als etwas, das allen gleich gegeben ist. Als etwas, das Gott reich verschenkt, aber nicht auf Wunsch oder Aufforderung hin. Dabei nerve ich mich über den Egoisten Jakob, der für sich einfordert, was er will – und zwar nicht nur von Menschen, sondern sogar von Gott.

Andererseits sehe ich tagtäglich, dass nicht alle in gleichem Mass Segen empfangen haben, jedenfalls nicht im alttestamentlichen Sinn, nach dem Segensgaben v.a. in langem Leben, Fruchtbarkeit von Mensch, Vieh und Acker, Sieg, Wohlstand und Macht bestehen. Dabei frage ich mich: Sollte energischer um Segen kämpfen, wer nicht genügend davon erhält? Und, falls ja, wer entscheidet denn, wieviel genügend ist? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort.

Nach Ostern

Mit der Auferstehung Jesu Christi an Ostern «hat uns Gott in seiner grossen Barm­herzig­keit neu geboren» – mit Aussicht auf ein unverderbliches Erbe. Nach diesem Heil sollen wir inständig verlangen, so die Aussage im ersten Petrusbrief.

Was mache ich nun mit diesen beiden Bildern? Mit dem ringenden Jakob, der gesegnet werden will, und dem Säugling, der nach Heil verlangt?

Mit Ostern bekomme ich die Aufgabe, mich für das Heil einzusetzen. Die Szene am Jabbok wird geöffnet. Die Nähe des 1:1 mit Gott bleibt bestehen, aber es geht nicht mehr darum, um den eigenen Segen zu ringen, oder seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Vielmehr soll ich mich mit Nachdruck einsetzen für das Heil unserer Gemeinschaft und unserer Welt.

Ostern ist ein Neuanfang. Und ermöglicht einen Neuanfang. Ihn mitzugestalten, ist unsere Aufgabe. Als der erste Petrusbrief geschrieben wurde, war diese Aufforderung mit grossen Gefahren verbunden: Das Bekenntnis zum Osterglauben wurde von der Gesellschaftsmehrheit angefeindet.

Heute setze ich mich damit – zumindest in unseren Gegenden – keinen grossen Gefahren mehr aus. Und doch braucht es Mut, die Welt nach Ostern mitzugestalten. Dabei kann ich mir an Jakob ein Beispiel nehmen! Und die nachösterliche Welt mitgestalten, im Kleinen, indem ich schlichte, wo sich zwei Freunde streiten. Im Grösseren, indem ich mich für Bedürftige in der Gemeinschaft einsetze und meine Segensgaben teile. Und im Grossen, indem ich für Frieden und Gerechtigkeit bete, wo ich die Zusammenhänge und meinen Einfluss darauf nicht erkennen kann.

Ich wünsche uns dabei guten Mut und die nötige Beharrlichkeit.