Letzte Wünsche

Es ist so eine Sache mit dem Wünschen. Wünschen darf man sich alles, sagen Eltern ihren Kindern. Und gleich im nächsten Satz: Du weisst aber schon, dass nicht alle Wünsche erfüllt werden, oder? Oder: Du darfst dir was wünschen, wenn du eine Sternschnuppe siehst – aber sag diesen Wunsch niemandem, sonst geht er nämlich nicht in Erfüllung.

Von Klein auf lernen wir, Wünsche zu haben, manche Wünsche zu äussern, und andere Wünsche für uns zu behalten. Was wünschst du dir zum Geburtstag? Einige Kinder zählen gleich eine Liste auf, andere sind zurückhaltender.

Je älter wir werden, desto schwerer fällt es uns, Wünsche zu benennen.

Und irgendwann im Lauf des Lebens, vielleicht nach der Trauerfeier einer Bekannten, oder nach einer Krankheit, werden im vertrauten Kreis letzte Wünsche geäussert. Das Trikot der Lieblingsmannschaft soll der Enkel erhalten, die Aktie der Burgdorfer Bier AG die Enkelin. Die Asche soll unter der Männliflue verstreut werden, und die Trauerfeier soll möglichst schlicht gehalten werden, ja, am liebsten im Kreis der engsten Angehörigen, die anderen geht doch mein Sterben nichts an.

Diese letzten Wünsche werden einmal gesagt und von aufmerksamen Angehörigen aufgenommen. Das Leben geht weiter, die Lieblingsmannschaft wechselt ihr Trikot, und überhaupt kommen noch zwei weitere Enkel zur Welt, die dereinst auch gerne eine Erinnerung bekommen würden. Die Familie trifft sich seltener, dafür hat man Zeit, mit Nachbarn zu plaudern und mit Jugendfreunden zu wandern (nicht unbedingt zur Männliflue).

Jahre später steht die Trauerfeier an.

Im Schock der Trauer erinnern sich die Angehörigen gerade noch daran, dass der Verstorbene doch irgendwann einmal genau festgehalten hatte, wie denn seine Trauerfeier zu gestalten sei. Sie erinnern sich aber nicht mehr daran, dass Wünsche eben Wünsche sind. Und dass Wünsche nicht unbedingt erfüllt werden müssen. Und die Pfarrerin, die zum Trauergespräch eingeladen wird, wagt sich auch nicht, Matthäus 22 zu zitieren. Dort entgegnet Jesus denen, die die Verstorbenen und Auferstandenen nach den Regeln unserer Welt behandeln wollen: «Gott ist nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden.»

Bei der Gestaltung der Trauer und des Abschieds müssen wir auf die Bedürfnisse der Lebenden Rücksicht nehmen, und nicht sogenannte letzte Wünsche zu erfüllen suchen. Wie kann ich denn wissen, wer ausser mir auch vom Verstorbenen Abschied nehmen möchte? Warum sollte ich darüber entscheiden dürfen, wer sich von meinem verstorbenen Verwandten verabschieden darf?

Es ist wichtig und sinnvoll, sich mit Angehörigen über letzte Wünsche auszutauschen. Am besten frühzeitig, gerne auch mit Unterstützung der Pfarrerin oder des Seelsorgers. Aber ich rege an zu einem liberalen Umgang mit diesen Wünschen – gerade, was Schlichtheit und Begrenzungen angeht.

Immer wieder höre ich von enttäuschten Trauernden, die sich gerne an einer Trauerfeier vom Verstorbenen verabschiedet hätten oder seiner an einem Grab gedenken würden. Die in ihrer Trauer allein gelassen werden, weil sie nicht zur Feier zugelassen waren, oder weil niemand weiss, wo denn nun die Asche beigesetzt ist.

Wir wünschen uns schon genug für unser Leben. Das Wünschen über unser Leben hinaus empfinde ich als Anmassung, auch wenn es der Wunsch nach einer «schlichten Feier» ist.

Deshalb wünsche ich mir mehr Freiheit im Umgang mit letzten Wünschen. Und ich spreche diesen Wunsch aus, in der Hoffnung, er möge in Erfüllung gehen.

 

Haben Sie Wünsche, die Sie jemandem anvertrauen möchten? Oder eine andere Anregung? Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung.

Pfarrer Roman Häfliger, Juli 2022