Zorn und Gnade

Pfarrer Roman Häfliger, 3. Sonntag nach Trinitatis 2021

«Hast du gesehen, mit wem er gestern unterwegs war?»
«Stell dir vor, letzthin habe ich Franz in ganz komischer Gesellschaft gesehen!»
«Was?! Mit Eveline gehst du essen? Was hast denn du mit der zu tun?»

So oder ähnlich tönt es auch heute noch, das Murren der Schriftgelehrten, der nimmt Sünder auf und isst mit ihnen. Sünder. Solche, die etwas falsch gemacht haben. Oder jedenfalls nicht ganz richtig. Wer sind denn Sünder? Die, die bei Rot über die Strasse gehen? Die stehlen, weil sie zuwenig haben? Die anderen nicht helfen, obwohl sie könnten? Die zuerst an den Benzinpreis denken und erst nachher an schmelzende Gletscher? Oder die stehlen, obwohl sie genug haben?

Es ist keine leichte Aufgabe, «Sünder» zu definieren. Und doch geschieht es immer wieder, dass Menschen andere aufgrund von (einmaligen) Fehlverhalten ausschliessen. Es ist einfacher, Sünder zu meiden, als sie wieder zu integrieren. Gegen diese Praxis kämpfte Jesus an mit seinem Handeln und seinen Geschichten. Er predigte zwar die Umkehr – ich soll mein Handeln überdenken und wo nötig verbessern. Immer aber ging seine Zuwendung Sündern gegenüber aber dieser Umkehr voraus. Im besten Fall hat die Zuwendung eine Umkehr provoziert. Sie war aber nicht Voraussetzung seiner Zuwendung, wie die Geschichte vom verlorenen Schaf zeigt.

Von Umkehr und Zuwendung handelt auch das Jona-Buch. Der Prophet Jona wurde von Gott aufgerufen, in die grosse Stadt Ninive zu reisen, und den Bewohner*innen dieser Stadt als göttliche Strafe für ihres Fehlverhalten – ihre Sünden – den Untergang zu predigen: «Noch vierzig Tage, dann ist Ninive zerstört!» (Jona 3,4), ruft ihnen der Prophet zu. Endlich nimmt er – nach Fluchtversuch übers Meer und wunderbarer Rettung durch einen Fisch – seinen Auftrag wahr.

Wie er das wohl geschafft hat, in der riesigen Stadt? Das steht nicht geschrieben – aber seine Botschaft ist bis zum König durchgedrungen. Als dieser die Drohung hört, legt er seinen Mantel ab, setzt sich im Trauergewand in den Staub und ruft ein Fasten für alle Menschen und Tiere aus. Alle sollen auf Essen und Trinken verzichten, inbrünstig zu Gott rufen und sich abkehren von ihrem bösen Weg.

Gott sieht, was sie machen, dass sie von ihrem bösen Weg abkehren, und führt das angekündigte Unheil nicht aus. Und jetzt?

Jona klagt Gott an.

Die Erzählung ist überzeichnet, die Charaktere sind karikiert wie in einem Disney-Comic. Den Busch mit seinen sternförmigen Blättern sehe ich vor mir wachsen und wieder eingehen. Es ist offensichtlich: Das Büchlein will nicht über historische Ereignisse berichten, sondern die Lesenden mit Fragen herausfordern. Der Prophet Jona, lebte in einer Zeit, die schon bei der Entstehung der Geschichte gut 300 Jahre zurücklag (2Kön 14,25). Das ist also etwa, wie wenn wir heute eine Geschichte schreiben würden, wie Pfr. Georg Thormann (1655–1708) mit einer Drohpredigt nach Paris geschickt wurde.

Damals war Ninive eine der grössten Städte des assyrischen Weltreichs. Die Assyrer haben wegen ihrer agressiven Expansionspolitik in den meisten biblischen Texten keinen guten Ruf. Aber gerade sie werden hier beschrieben als Gesellschaft, die sich besinnt, die angekündigtes Unheil ernst nimmt und versucht abzuwenden. Ihr Gegenspieler Jona weicht ebenfalls vom prophetischen Stereotyp ab. Statt Gottes Auftrag auszuführen, läuft er zuerst davon. Und als er später merkt, dass das verkündete Unheil nicht eintrifft, wird er zornig.

Schliesslich bekommt auch die eigentliche Hauptperson neue Merkmale. Gott war damals aus alten Geschichten, Liedern und Gebeten bekannt als streng und eifersüchtig. Hier beherrscht Gott Meer und Wind, beeindruckt Seefahrer und fremde Könige, setzt Naturgesetze ausser Kraft und befehligt Fisch und Würmer. Und: Diese göttliche Allmacht ist verbunden mit Langmut, Gnade und Barmherzigkeit.

Aus Jonas Mund tönen diese Merkmale nicht bewundernd oder dankbar, sondern anklagend. Der unversöhnliche Gottesmann hat seine unangenehme Aufgabe widerwillig ausgeführt und wartet nun schadenfreudig auf seinen Lohn. Gott antwortet rhetorisch darauf: «Ist es recht, dass du zornig bist?»

Zwei Tage später wird dieselbe Frage wiederholt. In der Zwischenzeit hat sich Jona eine Hütte gebaut, Gott hat ihm einen Rizinus wachsen und diesen wieder eingehen lassen. Damit Jona wirklich versteht, gibt es als Spezial-Effekt noch einen heissen Ostwind dazu. Aber Jona versteht immer noch nicht, Gott muss sich erklären: Wie dir eine einzelne Pflanze leidtut, so habe ich Mitleid mit der riesigen Stadt Ninive!

Die Geschichte ist so deutlich gezeichnet, dass ich mich als Leser*in nur kopfschüttelnd wundere über diesen selbstgerechten Propheten. Vielleicht hätte er die Geschichte vom verlorenen Schaf anders erzählt: «Wer von euch, der hundert Schafe hat und eines von ihnen verliert, geht nicht dem verlorenen nach, bis er ses findet? Und wenn er es findet, sagt er ihm, es hätte halt besser aufpassen müssen, und es sei selbst Schuld daran, dass es vom Weg abgekommen sei, und hoffentlich werde es heute Abend vom Wolf gerissen.»

Aber: Geht es mir nicht manchmal auch so? Habe ich mich nicht auch schon mehr aufgeregt über das Schucksal des Rizinus, der mir Schatten spendet, als über dasjenige Ninives, das mich überhaupt nichts angeht? Hätte ich die Grösse, in einer plötzlich auftretenden Demut eines – sagen wir – W. Putin oder X. Jinping – ein Zeichen von Gotteserkenntnis zu vermuten? Bin ich nicht auch manchmal so überzeugt von meiner Ansicht, dass alle anderen falsch sein müssen?

Die Geschichte von Jona rückt menschliches und göttliches Wirken und Urteilen in ein Verhältnis. Kein Mensch, fühle er sich noch so sehr von Gott auserwählt, darf von Gott Strafen für Dritte einfordern. Sondern muss sich eingestehen, dass menschliches Urteilsvermögen nicht an göttliche Güte heranreicht. Und darf dafür darauf vertrauen, selbst auch in diese Gnade eingeschlossen zu sein.

Die Geschichte von Jona beschreibt Gott trotz grosser Macht als verzeihend und nachsichtig. Gott in dieser Hinsicht ebenbildlich zu werden, ist eine grosse Aufgabe in Jesu Nachfolge.